Wolfgang Beutin: Zu Jost Hermands Bedeutung für die Literaturwissenschaft

Eine Erinnerung aus ‚wilden‘ Jahren

Zu den wissenschaftlichen Leistungen dieses hervorragenden Kollegen zählt bereits unter seinen frühen Schriften auch das Buch: „Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft“, eine Veröffentlichung, mit der er viel Nachdenken in Bewegung setzte, wie ich hier bezeugen möchte. Ich habe sie in einer Sonderausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, vor mir liegen (Druck der 3. Auflage; Erstauflage: Nymphenburger Verlagshandlung, sammlung dialog 27, München 1968). Sie erschien erstmalig also auf dem Höhepunkt der rebellischen Außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik.

In ihr setzte der Autor sich differenziert mit der damaligen ‚Methodendiskussion‘ auseinander. Er griff dabei auf den älteren „Historismus“ zurück, für dessen Verbannung „in die Rumpelkammer“ er keine „wirkliche Rechtfertigung“ anerkannte, prüfte aber zudem die gegen Ende der sechziger Jahre vorhandenen Methoden auf ihre Brauchbarkeit. Insbesondere verwarf er die faschistische Variante der Literaturdeutung à la Heidegger und kritisierte dazu die „formalistische und werkimmanente Richtung“ der Dichtungsgeschichte. Gründliche Überlegungen widmete er den zwei in konservativen Kreisen am heftigsten befehdeten Vorgehensweisen: der psychoanalytischen Methodik sowie der sozialkritischen Methodenlehre. Freuds Befund brachte er auf den Punkt: „Kunst ist also für ihn weitgehend ein therapeutisches Erleichterungsmittel inmitten einer schwer zu ertragenden Realität.“ Verdienstvoll war nicht zuletzt, daß er auf das Buch der Freud-Schüler Otto Rank und Hanns Sachs hinwies: „Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften“ (1913). Zu den „Vorteilen“ der psychoanalytischen Dichtungsinterpretation rechnete Hermand, es sei dadurch „ein Menschenbild entstanden, das eine ganz andere Dynamik besitzt. Erst durch Freud hat man wirklich erkannt, daß die menschliche Seele ein ständiges Schlachtfeld zwischen dem Es und dem Über-Ich ist.“ Ein Menschenbild ohne Blick auf diese Dynamik konnte bloß denen dienlich sein, die sich in einen Humanismus flüchteten, der auf einem eindimensionalen Menschenbild aufruhte. Bei Besprechung der sozialkritischen (marxistischen) Literaturwissenschaft war dann, wie Hermand betonte, „vor allem auf Franz Mehring hinzuweisen“, dessen „Lessing-Legende“ einstmals „einen Frontalangriff gegen die gesamte hohenzollernhörige Germanistik“ bildete.

Mit alledem unterstützte Hermand als „wichtigste Richtung“ diejenige, „die sich im Kampf gegen die immer weiter um sich greifende Spezialisierung und damit Sinnentleerung zu einem neuen Ganzheitskonzept bekennt. Ihr Ideal kann weder der Existentialismus noch der Formalismus sein, sondern nur eine unmittelbare Engagiertheit, die einem kritisch-dialektischen Verhältnis zur eigenen Gegenwart entspringt.“ Eine entsprechende Interpretation wird als bedeutende Kunst nur jene würdigen wollen, die sich als „eine ins Epochale vorstoßende Reaktion auf die Grundwidersprüche der eigenen Zeit“ zu erkennen gibt. Die Hörerinnen und Hörer, die das Glück hatten, Jost Hermand während seiner Vorträge zu erleben, beispielsweise in der Clara Sahlberg-Tagungsstätte in Berlin-Wannsee, werden stets dieses Wissenschaftlers „unmittelbare Engagiertheit“ verspürt haben. Sie werden ihm ihre lebenslange Dankbarkeit bewahren.

Wolfgang Beutin