Martin Rector: Erinnerungen an Jost Hermand

Jost Hermand – ich erinnere mich gut – stand natürlich schon in meinem studentischen Bücherregal. Seine Reclam-Anthologien über „Das Junge Deutschland“ (1966) und „Der deutsche Vormärz“ (1967) waren irgendwie unverzichtbar, seine pragmatisch-streitbare Intervention über „Synthetisches Interpretieren“ (1969) half bei der Orientierung in der damaligen Methoden-diskussion. Damals waren seine Bücher einfach nicht nur nützlich und informativ – das blieben sie zeitlebens – sondern auch noch einigermaßen zu überblicken. Das sollte sich seit den 70er Jahren immer schneller ändern. Wenn ich heute richtig zähle, hat Jost Hermand von 1958 bis zu seinem Tode am 9. Oktober 2021 allein um die 80 Bücher veröffentlicht, von zahlreichen Sammelbänden und Aufsätzen ganz abgesehen. Dabei hat er bedeutende Epochen der deutschen Literaturgeschichte weitgehend ausgespart; um das Mittelalter, um Barock, Aufklärung, Klassik und Romantik hat er sich kaum bemüht.

Was ihn immer wieder aufs Neue interessierte, war die deutsche Literatur vom Vormärz bis zur Gegenwart, und zwar weniger in ihrer ästhetischen Autonomie als in ihrer Bedeutung für die übergreifende deutschen Kultur- und Gesellschafts-geschichte. In diesem Feld ging er immer wieder in die Breite und in die Tiefe, auch ohne Scheu vor gelegentlichen Wiederholungen, zumal bei seinen erklärten Lieblingsautoren. Über Heine hat er fünf, über Brecht vier Bücher veröffentlicht. Seine eigentliche Domäne aber waren weniger solche monographischen Studien, sondern komprimierte kulturgeschichtliche Epochendarstellungen zum Vormärz, zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zum Faschismus, oder auch thematische Studien zum Judentum, zur Pop-Kultur und zur Ökologie-Bewegung, nicht zuletzt auch zur Bildenden Kunst und zur Musik. Hier fand er seinen typischen Darstellungsstil: stets eminent detailkundig, aber zugleich zusammenfassend und klar ordnend, dabei unbedingt wertungsfreudig und vor allem: lesbar.

Zugegeben: diese stupende Produktivität Jost Hermands begann meine Lese-Kapazität allmählich zu überfordern. Oft blieb es beim Nachschlagen. Da wirkte eine erste persönliche Begegnung wie ein Weckruf. Gestiftet wurde sie durch ein gemeinsames Interesse am Werk von Peter Weiss. Das kam so: Im Dezember 1982 lud Jochen Vogt einen handverlesenen Kreis von Freunden und Kollegen ein zu einem wunderbar informellen, desto intensiveren Workshop an der Universität Essen über „Die Ästhetik des Widerstands.“ Ich nahm daran Teil mit zwei Doktoranden aus meinem gleichnamigen Seminar in Hannover. Meine handschriftlichen Protokoll-Notizen über diese Diskussionen habe ich seinerzeit offenbar für aufhebenswert erachtet; ich finde sie noch heute als eine grüne Papp-Kladde in meinem Peter-Weiss-Regal. Darin kommt auch immer wieder Jost Hermand zu Wort. Er hatte zwar keinen Vortrag gehalten, war auch noch nicht mit einer Weiss-Publikation hervorgetreten, sondern war, wie die meisten von uns sogenannten 68ern, in der Verarbeitung der eigenen politischen Biografie von der „Ästhetik des Widerstands“ elektrisiert. Umso mehr mischte er sich mit Kommentaren und Zwischenrufen ein, temperamentvoll und wortreich, trotz seines kleinen Sprachfehlers. Irgendjemand hatte versucht, der Schreibweise der „Ästhetik des Widerstands“ mit Lukacs‘ Essay „Erzählen oder Beschreiben?“ beizukommen. Er konnte nicht wissen, daß er damit bei Hermand einen wunden Punkt berührte (dazu gleich mehr). In meinem Notizbuch steht wörtlich: „Hermand: Gibt das Modell Erzählen oder Beschreiben was her? Peter Weiss jenseits davon; neues Problem: Modernismus-Avantgarde.“ Was Hermand hier genauer bewegte, habe ich erst ein Jahr später verstanden, als ich seinen Beitrag in dem von Alexander Stephan herausgegebenen Band über die „Ästhetik des Widerstands“ las. Er trägt den Titel: „Obwohl. Dennoch. Trotzalledem. Die im Konzept der freien Assoziation der Gleichgesinnten aufgehobene Antinomie von ästhetischem Modernismus und sozialistischer Parteilichkeit in der ‚Ästhetik des Widerstands‘ und den sie begleitenden ‚Notizbüchern.‘“ Ich habe den Aufsatz jetzt noch einmal gelesen. Darin unterteilt Hermand die künstlerisch-politische Entwicklung von Peter Weiss nicht eben originell in drei Phasen: erstens die ästhetische Autonomie des Frühwerks, zweitens die radikale Negation der Ästhetik durch Politik in den 60er Jahren, und drittens in der „Ästhetik des Widerstands“ der Versuch einer Vermittlung der Gegensätze, und zwar nicht allein denkerisch, sondern, und hier wird Hermand textnah und genau, im Aufspüren realer historischer Versuche zur Bildung einer, wie er sich vorsichtig ausdrückt, „freien Assoziation der Gleich-gesinnten“, eines „Zusammengehens proletarischer und bürgerlicher Kräfte.“ Vier solcher Ansätze verfolge Weiss: in den Internationalen Brigaden in Spanien, in der Volkfrontbewegung in Paris um Willi Münzenberg, in der Widerstandsgruppe um die „Rote Kapelle“ und schließlich in dem „Kulturbund“ in Stockholm. Hermands Fazit: „Falls daher die Ästhetik des Widerstands eine Utopie enthält, dann besteht diese im Gedanken der Volksfront, in welcher der Widerspruch zwischen proletarischer Kulturarbeit, kritischer Erbe-Aneignung, ästhetischem Modernismus, bürgerlicher Liberalität und sozialistischer Parteilichkeit im Konzept der Gleichgesinntheit aller ihrer Teilhabenden temporär aufgehoben wird und damit eine qualitativ neue Basis weiterwirkender Hoffnungen bildet.“ (S. 98)

Im Nachhinein wird mir klar: das war die Botschaft, die Hermand im Kopf hatte, als er die narratologische Frage von Erzählen oder Beschreiben vom Tisch wischte. Das war sein Zugriff nicht nur auf Peter Weiss, dem er 2001 noch einmal zusammen mit Marc Silberman eines seiner berühmten „Wisconsin Workshops“ unter dem Titel »Rethinking Peter Weiss« widmete, das war sein Zugriff auf die Literatur überhaupt: er beurteilte sie nach dem emanzipatorisch-politischen Gebrauchswert ihres Inhalts. Das deckte sich zwar grundsätzlich mit den Impulsen von uns 68er-Germanisten, irritierte uns aber doch zugleich in seiner ungenierten Einseitigkeit. Hier offenbarten sich, scheint mir, auch biographisch begründete, tieferliegende Unterschiede.

Jost Hermand wurde am 11. April 1930 in Kassel geboren, verbrachte seine Kindheit zunächst in Berlin und war dann während des Krieges im Zuge der sogenannten „Kinderlandverschickung“ nach Polen ausquartiert worden, bevor er 1950 in Marburg ein Studium der Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte begann, das er 1955 mit einer Promotion über „Die literarische Formenwelt des Biedermeier“ bei Friedrich Sengle abschloss. Das war eine Ausbildung ganz im Geiste der restaurativen Nachkriegs-Germanistik. Politisiert wurde Hermand dann vermutlich schon durch den ebenfalls zunächst in Marburg lehrenden Kunst-historiker Richard Hamann, der seit 1947 zugleich eine Gastprofessur in Ostberlin innehatte, wohin er in den 50er Jahren übersiedelte und den jungen Jost Hermand als Mitarbeiter mitnahm. Noch in Marburg hatte Hamann mit der Konzeption der großen Epochendarstellung „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“ begonnen, die er nun in Ostberlin gemeinsam mit Hermand fertigstellen wollte. Tatsächlich hat Hermand die fünf Bände, die von 1959 bis 1975 im Ostberliner Akademie-Verlag unter den Verfassernamen Hamann und Hermand erschienen und mehrfach nachgedruckt wurden, von Anfang bis Ende allein geschrieben, wie er in seiner Autobiographie „Zuhause und anderswo“ (2001) verriet. Aber nicht nur diese im linken Geiste Hamanns konzipierte Arbeit, sondern mehr noch die damit zusammenhängenden Konflikte mit der DDR-Kultur-bürokratie dürften ihn nachhaltig beeinflusst haben. Denn als der zweite Band über den „Naturalismus“ erscheinen sollte, beschied man ihm: der Naturalismus sei, wie die damals noch unbestrittene Autorität Georg Lukács (nota bene: „Erzählen oder Beschreiben?“) nachgewiesen habe, nur Abbildung der Wirklichkeit, nicht aber Kunst. Der Konflikt war offenbar unlösbar. 1957 wurde Hermand aus der DDR ausgewiesen. Mit dieser Vergangenheit aber hatte er aber auch in der damaligen Bundesrepublik keine Chancen. Ein Jahr später nahm er eine in der Folge mehrfach aufgewertete Professur für neuere deutsche Literatur und deutsche Kulturgeschichte an der University of Wisconsin-Madison an. Dort blieb sein Arbeitsplatz und sein Wohnsitz bis zu seinem Tode, dort hat er sich offenbar durchaus wohlgefühlt, denn er konnte dort schreiben, darauf kam es an. Als ich 1991 ein Semester zu Gast in Madison war, zeigte er mir sein privates Arbeitszimmer: eine asketische Klause im Keller, ein Regal mit seinen Publikationen, ein einfacher hölzerner Tisch, eine Schreibtischlampe, eine Schreibmaschine. Andererseits: von da aus jettete er über sechzig Jahre immer wieder über den Ozean und pflegte seine zahllosen Kontakte in Deutschland.

Die frühen Konflikterfahrungen mit der DDR-Kulturbürokratie aber haben, wie mir scheint, in Jost Hermands politisch-kulturellem Denken durchaus zwiespältig nachgewirkt. Einerseits hat er an Hamanns linker kulturgeschichtlicher Sichtweise bis hin zur Option für den Sozialismus zeitlebens festgehalten; andererseits konnte auch er dem realen Sozialismus der DDR nichts abgewinnen. Er hat ihn nicht explizit kritisiert, er hat ihn eher ignoriert. Es ist immerhin auffällig, daß er sich kaum mit der DDR-Literatur auseinandergesetzt hat; die zwei Bücher über Arnold Zweig befassen sich ebenso wenig mit der DDR-Literatur wie diejenigen über Brecht. In einer wahrhaft historischen Sekunde, die ich mit ihm teilte, ist mir das noch einmal klar geworden. Am 9. November 1989 saßen wir zusammen mit dem Kollegen Peter Stein aus Lüneburg in einem Zug auf der Rückfahrt von einem Kongress, zu dem uns Hubert Orlowski in Poznan eingeladen hatte. Schon die Vorträge und Diskussionen dieser Tagung waren überschattet von den spärlichen Nachrichten (es gab keine Smartphones!) über die sich zuspitzenden Verhältnisse in der DDR. Nun fuhren wir, eher diffus beunruhigt, vom Ostbahnhof bis zum Bahnhof Zoo just in der Stunde, als Günter Schabowski seine Pressekonferenz gab. Wir waren dabei, aber wir wussten von nichts. Jost Hermand stieg wortlos grübelnd am Zoo aus. Ich sah spät abends zuhause in den „Tagesthemen“ die Mauerstürmer. In seiner Autobiographie hat Hermand erzählt, was ihn damals bewegte: es war nicht die Vorfreude auf eine mögliche Wiedervereinigung, sondern die Hoffnung auf eine innere Erneuerung der DDR im Sinne eines wohlverstandenen Sozialismus. Seine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Aber Jost Hermand blieb sich treu. Es gab nicht viele seinesgleichen.

Hannover, den 8.11.2021