Anna Haentjens: Für Jost Hermand

Lieber Jost,
wir lernten uns im März 2006 im ver.di Bildungs- und Begegnungszentrum Clara Sahlberg am Wannsee in Berlin kennen. Dort fand zum ersten Mal ein dreitägiges Literaturseminar statt, das von der Gewerkschaft ver.di, dem Verband deutscher Schriftsteller und weiteren demokratischen Institutionen ins Leben gerufen worden war.

Diese Tagung unter dem Motto „Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht…“ stand ganz im Zeichen des 150. Todestages von Heinrich Heine. In deinem eindringlichen Referat unter dem Titel „Unter Genossen: Zur Freundschaft zwischen Heine und Marx“ hattest du dich damals vor allem mit den politischen Ansichten und Auseinandersetzungen dieses streitbaren und mutigen Dichters befasst. Dein Vortrag basierte auf zwei Zeilen aus Heines 1843 geschriebenen Gedicht „Lebensfahrt“: „Ich hab‘ ein neues Schiff bestiegen, / Mit neuen Genossen“.

Am Abend warst du dann, lieber Jost, zu meiner literarisch-musikalischen Hommage gekommen, die sich unter dem Ausspruch Heines „Denn das Meer ist meine Seele“ in Liedern und Texten ebenfalls ganz dem Werk des Dichters und dessen Biografie widmete. Die Hommage enthielt auch das Gedicht „Lebensfahrt“, das der Berliner Komponist Manfred Schmitz beeindruckend im Sinne des Textes vertont hatte. Manfred Schmitz war es auch, der mich an diesem Abend am Flügel begleitete.

Lieber Jost, so begegneten wir uns sechzehn Jahre lang immer wieder zu der uns von Mal zu Mal mehr ans Herz gewachsenen Literaturtagung am Wannsee. Ich freute mich vor jeder Tagung auf dein reiches Wissen, das deine frei gehaltenen Vorträge widerspiegelten, und das mich und alle Zuhörenden jedes Mal erneut faszinierte – über welches Thema auch immer du gesprochen hast.

Anna Hantjens           (Foto: HW)

Und es freute mich und erfüllte mich jedes Mal erneut mit Stolz, mit welcher Wertschätzung du all meine literarisch-musikalischen Programme wahrnahmst, über die wir anschließend diskutiert haben, und denen du oftmals Ergänzendes und Wissenswertes hinzufügtest. Wie gerne nahm ich deine fundierten Anregungen an!

Die vorerst letzte Literaturtagung am Wannsee fand vom 31. Mai bis zum 2. Juni 2019 unter dem Motto „Widerstand ist nichts als Hoffnung“ statt. Lieber Jost, dein Thema hieß: „Doch. Dennoch. Trotzalledem. Die Relevanz der ‚Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss für die heutige Situation“. Mein Thema: „Trotz alledem – Lieder und Texte zu Widerstand und Hoffnung“.

Lieber Jost, keiner der Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer konnte am Schluss von drei erfüllten Tagen ahnen, dass wir dich im Rahmen unserer Literaturtagung ein letztes Mal hören und erleben durften.

Als wir alle am Mittag des 2. Juni abreisten, stelltest du zum Abschied die Frage: „Ob wir uns wohl hier je noch einmal wiedersehen?“

Das sich deine Vorausahnung nun bewahrheitete, erfüllt mich mit großer Traurigkeit. Was bleibt, ist meine tief empfundene Dankbarkeit, mit dir einem groß- und warmherzigen Menschen in meinem Leben begegnet zu sein, und von dem ich viel lernen durfte.

Anna Haentjens, Elmshorn
anna-haentjens.de