Sabine Kebir: Nachruf auf Jost Hermand

Sabine Kebir  (Foto: HB)

Mit dem am 11. April 1930 in Kassel geborenem Jost Hermand ist nun wohl der letzte Germanist von uns gegangen, der im tiefsten Sinne Kulturwissenschaftler war, denn er überschritt die Grenzen des Fachs und stellte – als wäre es das Selbstverständlichste der Welt – auch ständig Verbindungen zwischen den verschiedenen Künsten her. Das flexible Talent war Hermand eingeboren. Eigentlich wollte er Romanschriftsteller werden, nahm aber das Angebot des zwischen Ost- und Westdeutschland pendelnden renommierten Kunsthistorikers Richard Hamann an, dessen aus Altergründen nicht mehr durchführbares Mammutprojekt einer fünfbändigen Kulturgeschichte zu verschriftlichen: Gründerzeit, Naturalismus, Impressionismus, Stilkunst um 1900 und Expressionismus. Da das alle Kunstsparten in Beziehung setzende Werk im Akademie Verlag der DDR erscheinen sollte, wechselte der junge Dr. Hermand 1955 von Marburg nach Ostberlin. Die ersten beiden, vom intellektuellen Publikum der DDR begierig aufgenommenen Bände entsprachen nicht den Vorstellungen der Kulturbürokratie, weshalb Hermand 1958 barsch aus dem Arbeiter- und Bauernstaat ausgewiesen wurde. Doch einige Jahre in der DDR gearbeitet zu haben, reichten, um Hermand die universitäre Karriere in der Bundesrepublik zu verwehren. Er fand den Ausweg in die USA. Dass der Akademie Verlag es ihm ermöglichte, dort die weiteren Bände fertigzustellen und zwischen 1959 und 1975 auch herausbrachte, gehört zu den wenigen bemerkenswerten Wundern der Kulturgeschichte des Kalten Krieges.

Ostberlin war für Hermand auch in anderer Beziehung prägend: Hier war er Fan des Berliner Ensembles geworden: «Da gab es das Politische, aber auch etwas von so hoher ästhetischer Qualität in dem Brecht-Theater, das hatte mich frappiert. Das hat mich total umgekrempelt nach dieser Adenauerschen, total reaktionären Zeit.» Während Brecht in der Bundesrepublik weitgehend boykottiert wurde, konnte Hermand 1959 mit Studenten seiner Universität in Madison/Wisconsin Mutter Courage inszenieren – «mit Halbvorhang, mit verstimmtem Klavier». Von seinen vielen Forschungsschwerpunkten sei neben Brecht auch Heinrich Heine erwähnt.

Präzise im Detail      (Foto: HW)

Mit seiner Lehre, die die deutsche Kulturgeschichte auch während und nach der Teilung in ihrem dialektischen Spannungsverhältnis zusammendachte, eröffnete Hermand ein neues, bis heute lebendiges Kapitel der amerikanischen Germanistik. In allen seinen Arbeiten verband er kulturhistorische, soziale, politische und selbstverständlich ökologische Gesichtspunkte und wirkte so der postmodernen Verengung auf unhistorische Ästhetisierung entgegen. Obwohl er damit nicht dem germanistischen Mainstream folgte, konnte der äußerst lebendig vortragende Hermand zahlreiche Gastprofessuren an deutschen Universitäten wahrnehmen. Seit 2006 hielt er fesselnde Vorträge bei den alljährlichen Veranstaltungen des deutschen Schriftstellerverbands in der ver.di-Bildungsstätte am Wannsee.

Jost Hermands Schaffenskraft blieb unerschöpflich. Er starb am 9. Oktober 2021 in Madison/Wisconsin.

Sabine Kebir, Berlin

Siehe auch: https://kuk.verdi.de/aktuell/mich-wollten-beide-deutschlaender-nicht-mehr-6475/

* Dieser Nachruf erschien unter dem Titel Ein rares Wunder des Kalten Krieges. Zum Tod des Kulturwissenschaftlers Jost Hermand. In: Theater der Zeit, 12/ 2021, S. 70.