Jost Hermand, der deutschamerikanische Germanist, der weit über die Fachgrenzen hinaus große Sujets der deutschen Literatur- Kunst- und Musikgeschichte einem breiten Publikum anschaulich vermittelt hat, verstarb am
9. Oktober 2021 in seinem Wohnort Madison in Wisconsin. Mit einer Vielzahl von oftmals reich illustrierten Büchern, von Gastverträgen und -semestern in Deutschland gehörte Hermand zu der kleinen Gruppe öffentlicher Intellektueller, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die akademische Landschaft des Landes deutlich bunter und lebendiger gemacht haben, was Konfrontationen mit Traditionsvertretern der Wissenschaft einschloss.
Als beliebter Universitätslehrer hielt Hermand der Staatsuniversität von Wisconsin, in die er 1958 von Berlin und Marburg überwechselte, die Treue. Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren übte er großen Einfluss auf die Verjüngung der amerikanischen Germanistik aus, machte das von ihm weitgehend dominierte German Department in Madison eine Zeitlang zum führenden germanistischen Institut in den USA, aus dem eine beträchtliche Anzahl bekannter Germanisten und Germanistinnen hervorging.
Hermands Durchbruch als weithin beschlagener und interdisziplinär arbeitender Historiker der deutschen Kulturgeschichte geschah in den sechziger Jahren, als er nach Vorlagen seines Mentors und Vorbildes, des Kunsthistorikers Richard Hamann, die fünfbändige Geschichte der “Deutschen Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus” verfasste, die in Ost- und Westdeutschland veröffentlicht wurde. Der Fortsetzungsband “Die Kultur der Weimarer Republik” (1978), zusammen mit Frank Trommler verfasst, stellte die erste zusammenfassende Analyse der Künste jener Epoche in deutscher Sprache dar. Ebenfalls als Überblick angelegt, fand Hermands zweibändige Kulturgeschichte der Bundesrepublik aufgrund ihrer Kritik der restaurativen Tendenzen eine widersprüchliche Aufnahme.
In der Vielzahl seiner Veröffentlichungen, zu denen nun posthum zwei Bände hinzukommen, lässt sich unschwer ein geradezu missionarisches Engagement an der politisch progressiven, aufklärerischen Literatur, Kunst, Musik und politischen Theorie erkennen. Diese Ausrichtung an progressiver deutscher Kultur reicht von Bertolt Brecht bis zu Heine und den Jakobinern zurück, begreift die Musik Beethovens ebenso ein wie die Malerei Adolf Menzels und Caspar David Friedrichs, Kompositionen von Hanns Eisler ebenso wie expressionistische Utopien. Mit diesem Engagement wurde Hermand in den achtziger Jahren zum Vorreiter einer ökologischen Kritik von Gesellschaft und Kunst, die inzwischen zum Bestandteil grüner Proklamationen geworden ist.
Mit seiner Fähigkeit, Einzelphänomene im Zusammenhang großer historischer Entwicklungen eingängig zu illuminieren, hat Hermand eine Vielzahl von Neuentdeckungen angestoßen, die der deutschen Kulturgeschichtsschreibung eine zuvor nur selten so stimulierende, oft auch provozierende Note verschafft haben.
Elisabeth Hermand, geborene Jagenburg (*)
Ein Porträt von Jost Hermand, das versucht, über die Betrachtung seiner erstaunlichen Produktivität als Gelehrter und Lehrer hinaus auch seinem persönlichen Leben gerecht zu werden, sollte seine sechzigjährige Ehe mit einbeziehen. Elisabeth Hermand, geborene Jagenburg, war eine wunderbar begabte und doch schüchterne Frau, die den energiegeladenen Lebensstil ihres Mannes zwischen Schreiben und Reisen ermöglichte. Als Freund von beiden seit 1967, als er Gastprofessor und ich Gastdozent in Harvard war, empfand ich Elisabeths Anwesenheit immer als äußerst anregend, da sie dafür sorgte, dass Jost unsere Gespräche nicht nur auf akademische Themen beschränkte. Sie regte Fragen an oder ließ sie zu, die umfassender waren, d. h. die eigene Lebenserfahrung mit ihren spezifischen Dilemata und nicht-akademischen Gegenleistungen einbezog.
Die beschwerlichen Anfänge von Josts Karriere in Berlin und Marburg, als er sich vergeblich um eine akademische Stelle bemühte, und dann an der Universität von Wisconsin, wo er schnell zu einer bedeutenden Persönlichkeit auf dem Gebiet der Germanistik aufstieg, waren in unseren frühen Gesprächen noch präsent. Zu dieser Zeit wurde mir Elisabeths Rolle als vollwertige Partnerin in diesen Bemühungen bewusst. Tatsächlich hatte sie, wie ich später erfuhr, als sie noch Elisabeth Jagenburg hieß, im Haus des Kunsthistorikers Richard Hamann in Marburg gewohnt und 1955 über dessen Sohn, Richard Hamann-MacLean, dafür gesorgt, dass der schon etwas gebrechliche Altmeister der Kunstgeschichte ihren Verlobten Jost Hermand kennenlernte. Die Familien Hamann und Jagenburg kannten sich gut.
Elisabeths Vater Paul Jagenburg, ein Unternehmer, dessen Firma 1932 der großen Depression zum Opfer fiel, hatte als Nationalbolschewist politische Bedeutung gewonnen (was zu seiner Inhaftierung von 1941 bis 1945 im Konzentrationslager Buchenwald führte) und sich nach 1945 als Sozialdemokrat in Bielefeld betätigt. Richard Hamann, ebenfalls ein überzeugter Antifaschist und noch mit der Universität Marburg verbunden, war Professor an der Berliner Humboldt-Universität und in der ostdeutschen Wissenschaftshierarchie hoch privilegiert. Die Begegnung zwischen ihm und dem jungen Hermand wurde Teil der Familienüberlieferung: Nachdem er abends Josts Dissertation erhalten hatte, während Jost nach Kassel fuhr, las Hamann sie über Nacht und telegrafierte am nächsten Morgen, er solle nach Marburg zurückkehren und mit ihm zusammen an der Geschichte der deutschen Kultur seit der Reichsgründung schreiben. Jost sagte sofort zu, heiratete in Bielefeld, zog mit Elisabeth nach Ost-Berlin und begann mit der Arbeit an dem Band über den Naturalismus.
Seine Arbeit nahm einen beeindruckenden Schwung an, wäre aber ohne Elisabeth nicht möglich gewesen. Sie übernahm die mühsame Aufgabe, die benötigten Bücher und Materialien in dem wenig effizienten Berliner Bibliothekssystem zu beschaffen. Sie half Jost, mit den Auswirkungen seines Stotterns und den beruflichen Enttäuschungen in Westdeutschland zurechtzukommen, nachdem er 1957 aus der DDR ausgewiesen worden war, und teilte das Wagnis, an einen unbekannten Ort irgendwo in Amerika zu ziehen. Dieses erste Jahrzehnt ihrer Partnerschaft erwies sich für Elisabeth als das erfreulichste, weil sie auf eine gemeinsame akademische Existenz hinarbeiten konnte. Und soweit ich das beurteilen kann, blieb diese gemeinsame Existenz der Kern ihrer Ehe, auch als Jost mehr und mehr von seinem Erfolg als Lehrer und Mentor einer großen Zahl von Studenten und als zunehmend prominenter Redner auf Konferenzen in aller Welt absorbiert wurde.
Die Frau von Jost Hermand in einer kleinen Universitätsstadt im Mittleren Westen zu sein, war kein einfaches Leben. Elisabeth, die auf die amerikanische Alltagskultur nicht vorbereitet war und kaum Englisch sprach, war dennoch in der Lage, vor allem in den 1970er Jahren ein offenes Haus für Studenten und Kollegen zu führen. Das seit den 1960er Jahren entwickelte Interesse an ökologischen und feministischen Themen brachte sie in engeren Kontakt zunächst mit Studentinnen, die sie unter ihre Fittiche nahmen, später mit einer Reihe von Fachleuten der „grünen Lobby“ der Umweltdekade in Wisconsin.
Jost würdigte ihr Engagement für ökologische Belange – das auch ihren privaten Lebensstil prägte – indem er in seinen Memoiren »Zuhause und anderswo« (2001) erwähnt, dass „Elisabeth Hermand“, wie sie mit vollem Namen heißt, sich in den 1980er Jahren für eine unbezahlte ehrenamtliche Tätigkeit im Büro der »Wisconsin Environmental Decade« entschied. Angesichts ihres Entgegenkommens und ihrer Unterstützung seiner privilegierten Existenz ist es etwas verunsichernd, dass dies die einzige wesentliche Information über das Leben mit ihr in Madison ist, die er aufzeichnen sollte. Es könnte sein, dass seine persönliche Stilisierung nach seinem großen Mentor Richard Hamann, dessen Hingabe an rigorose Arbeit und Sachlichkeit, an Streben und Kämpfen, die Jost in seinen Memoiren in bewegenden Worten beschreibt, ihn von den sehr persönlichen Tatsachen seines Lebens mit Elisabeth wegführte, oder zumindest von einer Anerkennung ihrer Talente abgesehen von ihrer unglaublichen Geduld und Nachsicht. Ich hörte mit Wehmut, dass sie in späteren Jahren das Klavierspielen aufgab und bemerkte, dass sie sich von den meisten Kontakten in Stadt und Universität zurückzog.
Und doch gibt es drei Bereiche, in denen die Partnerschaft lebendig und ungehindert blieb: erstens das Umweltbewusstsein, das Elisabeth in ihr Leben einbrachte und das zu Josts energischer Öko-Kritik in den 1980er Jahren beitrug, als sich nur wenige Menschen der drohenden Umweltkatastrophen bewusst waren und kaum glaubten, dass „grünes Denken“ Kunst und Ästhetik einschließen müsse. Der andere Bereich ist ihre lebenslange Liebe zur Musik und ihre außergewöhnliche Kenntnis der Musik (was Jost „ernste Musik“ nannte). Elisabeth, die Pianistin, erlebte in der klassischen Musik die Präsenz von „Kultur“, den Anker, der ihr ein engagiertes, gedankenvolles, aber auch isoliertes Leben ermöglichte. Umso wichtiger waren drittens die gemeinsamen Reisen, vorzugsweise nach Deutschland, vor allem nach Berlin, mit seinem kulturellen Angebot und der Fortführung einer Tradition, die Elisabeths Erziehung und ihr schwieriges Leben als junge Frau während des Nationalsozialismus beschienen hatte. Sie drückte ihre Bedenken über den Mangel an Kultur in Amerika mit Nachdenklichkeit aus und war denjenigen dankbar, die Kultur gegen alle Widerstände aufrechterhielten, nicht zuletzt im German Department in Madison. Das einzige Mal, dass ich Jost und Elisabeth gleichermaßen glücklich sah, nachdem sie gerade vollständig in die Kultur eingetaucht waren, war 1995, nachdem sie von einem Aufenthalt in Wien zurückgekehrt waren, wo Jost Artgenosse im »Institut für Wissenschaft und Kunst« (IWK) gewesen war.
Elisabeth starb einen schmerzhaften Tod an den Komplikationen einer Lungenentzündung, die sie und Jost sich im Januar 2013 durch eine schwere Grippe/Bronchitis zugezogen hatten, was Jost zutiefst erschütterte. Es währte nur kurz, bis er und ich unsere Freundschaft mit Briefen und Besuchen wieder aktiver pflegten.
* Dieser Beitrag ist im Origial in Englisch verfasst und wurde von Heinrich Bleicher übersetzt.
Das Original von Frank Trommler findet sich hier als PDF Remembering Elisabeth Hermand