Manche glaubten, er sei schon längst tot, andere, dass er noch ewig, mindestens zehn Jahre vor sich hatte, da er immer noch im Durchschnitt ein Buch pro Jahr veröffentlichte. Sowohl die einen wie die anderen hatten unrecht. Jost Hermand ist plötzlich und unerwartet am 9. Oktober 2021 aus dem Leben geschieden. Die zwei letzten Buchmanuskripte, die er verfasste, werden bald erscheinen: DIE WA(H)RE KUNST: Deutsche Kultur im Sog sozioökonomischer Wandlungsprozesse (Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar 2022) und Hearing Music in a Different Key: Ideological Implications in the Works of German Music (in seiner eigenen Serie bei Peter Lang Publishing – German Life and Civilization). Für mich stellte sich immer die Frage: lebt er, um zu schreiben oder schreibt er, um zu leben? Eine einfache Antwort darauf kann ich nicht geben.
Was war passiert? Seit Monaten beschwerte sich Jost, dass er immer müder wurde, weniger Kraft und weniger Energie hatte. Ich dachte immer an das Rauchen, aber er behauptete (und ich glaubte es ihm), dass seine langjährige Hausärztin dagegen war, in seinem Alter diese Sucht aufzugeben, denn es wäre ein Schock für seinen Körper. Im Laufe des Sommers stellte seine Ärztin besorgt mangelhafte Sauerstoffwerte im Blut fest, worauf diverse Spezialisten ihn untersuchten und einen routinemäßigen Laparoskopie-Eingriff empfahlen. Der Eingriff war am Montag, dem 4. Oktober erfolgreich, und am nächsten Tag bestätigte der Chirurg, dass er nach Hause gehen durfte, denn sein Zustand sei außerordentlich gut für einen Menschen in seinem Alter. Ich erlebte Jost leibhaftig ein paar Tage später, am Freitag bei Kaffee und Kuchen. Er sah gut aus, konzentriert und interessiert wie immer. Wir redeten über seine Ideen für die nächsten Forschungsprojekte: sollte es eine Kulturgeschichte der DDR sein, als Gegenstück zu seiner früheren Kulturgeschichte der (alten) BRD (1988)? Ich plädierte (wie schon oft) für eine memoirenhafte Kulturgeschichte des Stotterns, sowohl aus seiner eigenen Erfahrung, als auch hinsichtlich Schriftstellern mit einer ähnlichen Sprachbehinderung (wie z.B. Kleist). Am nächsten Tag ist er beim Postholen vor seinem Haus umgekippt und offenbar sofort gestorben.
Als amerikanischer Austauschstudent lernte ich Jost Hermand zunächst als „Leser“ an der FU Berlin kennen, und zwar 1970 in einem Proseminar (Einführung in die Literaturwissenschaft). Wir lasen u.a. sein Buch Synthetisches Interpretieren: Zur Methodik der Literaturwissenschaft (1968). Ich war begeistert und auch überrascht, dass dieser Autor in Madison, Wisconsin lehrte! Zurück an der Indiana University, wo ich promovieren wollte, organisierte ich gleich einen Lesekreis mit Kommilitonen und Kommilitoninnen, weil ich diese Methode als für uns bahnbrechend empfand. Zwei Jahre später lernte ich Hermand persönlich kennen, als ich mit ein paar Mitstudierenden von der Indiana University die fünfstündige Pilgerfahrt nach Madison unternahm, um an dem seit 1969 von Hermand und seinem Kollegen Reinhold Grimm organisierten, jährlich stattfindenden Wisconsin Workshop teilzunehmen. Diesmal zum Thema „Realismus-Theorien: Literatur, Musik, Malerei, Politik“ (1974; erschienen bei Kohlhammer Verlag 1975). Hermand war zuvorkommend, überrascht, dass eine Studentendelegation aus Indiana angereist war. Da ich mich als Heiner-Müller-Fan outete, machte er mich sofort mit seiner Doktorandin Helen Fehervary bekannt, was dazu führte, dass wir zwei – die beide Müller in Berlin kennengelernt hatten – uns entschieden, Müller-Texte gemeinsam ins Englische zu übersetzen.
Großes Wiedersehen in Ost-Berlin, denn im August 1975 hatten Helen und ich uns mit Müller in seiner Wohnung am Kissingenplatz in Pankow verabredet, um mit ihm unsere Übersetzung von Mauser ins Englische zu besprechen. Hermand, der Müller noch nie persönlich gesprochen hatte, schloss sich uns an und nahm die Gelegenheit wahr, Müller gleich zum nächsten Wisconsin Workshop einzuladen. Im Herbst pilgerte ich noch einmal zu diesem Workshop in Madison, jetzt zum Thema „Geschichte im Gegenwartsdrama“ (erschienen 1976 beim Kohlhammer Verlag.) mit dem Ehrengast Heiner Müller höchstpersönlich!
Danach kreuzten sich unsere Wege hauptsächlich bei verschiedenen Tagungen und über Briefe, weil ich inzwischen auch in der von Hermand mitbegründeten Internationalen Brecht Gesellschaft (IBS) tätig war. Beim Brecht-Dialog 1988 in Ost-Berlin (zum 90. Geburtstag von Brecht) traf ich – wie der Zufall es ergab – auf Hermand und Grimm, die mir dringlich zuredeten, mich auf eine Stellenausschreibung an der Uni in Madison zu bewerben. Ein Jahr später trat ich die Stelle an, und der Rest ist sozusagen Geschichte, aber wie alles im Leben von Jost Hermand eine einzigartige Geschichte, die er wahrscheinlich mit seinem scharfen Gedächtnis besser nacherzählen könnte als ich.
Es folgten Kooperationsprojekte: z.B. der Wisconsin Workshops Zur Abwicklung der DDR („Contentious Memories: Looking Back at the GDR“, 1996) und zu Peter Weiss (1998); eine Sonderausgabe der Zeitschrift Monatshefte zum 100. Geburtstag von Brecht (Bd. 90.3, 1998) sowie ein Gemeinschaftsprojekt zu „Heiner Müllers frühe Amerikaaufenthalte“ (Verbrecher Verlag, 2018) und nach seiner Emeritierung die langjährige Lehrveranstaltung zu „Nazi Culture“ für Bachelor-Studierende an der Uni Wisconsin, die wir von 2007 bis 2020 gemeinsam planten und unterrichteten (zugänglich sind die Filmdokumentationen von 18 der Vorlesungen.)
Richtig nähergekommen sind Jost und ich uns aber durch den Tod unserer Ehefrauen, die beide 2013 innerhalb von sechs Monaten starben. Zwei alte Witwer, die gemeinsam ihren Verlust betrauerten. Die monatlichen Mittagessen in seinem Lieblingsrestaurant, die sich in der Pandemie zu zweiwöchentlichem Suppenlöffeln bei mir zu Hause verdichteten, führten zu den unterschiedlichsten Gesprächen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über die Literatur, Kunst, Oper und Theater, über Politik und Demokratie, sowie über das Altern. Jost lernte ich als Geschichtenerzähler, Sänger, Nostalgiker, aufmerksamen Zuhörer, Stoiker und singuläre Persönlichkeit kennen. Gegen ihn musste ich aber auch verstärkt ankämpfen, weil er angesichts der medial vermittelten Katastrophen im Fernsehen und in Rundfunknachrichten immer pessimistischer wurde, wogegen ich versuchte, ihn auf die tatsächlichen globalen Widerstandsbewegungen hinzuweisen, auch lokal in Madison und in Wisconsin, die er allein in seinem von der Welt abgelegenen Arbeitszimmer nicht einzuschätzen wusste. Ein sehender Tiresias gegen meine Sicht durch eine rosarote Brille? So kam es mir manchmal vor.
Über Jost Hermands „Beziehung“ zu Hans Mayer kann ich wenig bis nichts sagen. Ich weiß, dass er ihn verehrte und schon sehr früh Bücher von Mayer rezensierte aber ohne ihn persönlich zu kennen, z.B. dessen Bände Richard Wagner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (1959) und Vereinzelt Niederschläge. Kritik – Polemik (1973). Die Begegnung passierte erst 1971, als Mayer von Jack Zipes als Gastprofessor an die University of Wisconsin in Milwaukee eingeladen wurde (etwa 1.5 Autostunden östlich von Madison entfernt). Aus diesem Anlass holte Hermand den geschätzten Kollegen für den 3. Wisconsin Workshop nach Madison. Das Thema hieß: Exil und innere Emigration, Mayers Beitrag lautete: „Konfrontation der inneren und der äußeren Emigration: Erinnerung und Deutung“. Ich war nicht dabei, aber ich kann mir vorstellen, dass die zwei seelenverwandten Emigranten schon einiges an Erfahrungen auszutauschen
hatten.
Marc Silberman (Madison, Wisconsin)
Siehe auch die Hermand-Ehrung der IBS: https://e-cibs.org/tribute-to-jost-hermand/
Homepage Marc Silberman: https://gns.wisc.edu/staff/silberman-marc/