Das Buch »Synthetisches Interpretieren« war, als ich 1973 mein Studium der Germanistik begann, Pflichtlektüre für eine zukunftsweisende Literaturwissenschaft. Ich erwarb das Buch des mir unbekannten Autors und hatte, wie meine Anstreichungen und Anmerkungen im Text belegen, durchaus einen Gewinn davon. Der Nachruf von Wolfgang Beutin auf dieser Seite zeigt, worin die Bedeutung dieses Buches lag und auch heute noch liegt.
33 Jahre später lernte ich Jost Hermand dann persönlich kennen. Als Bundesgeschäftsführer des Schriftstellerverbandes VS war ich Mitveranstalter einer Tagung zum 150. Todestag Heinrich Heines in der ver.di-Bildungsstätte am Wannsee. Fasziniert lauschte ich dem einstündigen Vortrag des damals 76jährigen zum Thema der „Freundschaft zwischen Heine und Marx“. Im persönlichen Gespräch lernten wir uns bei der dreitägigen Veranstaltung näher kennen.
In den folgenden 13 Jahren sahen wir uns dann regelmäßig bei den Tagungen am Wannsee, zu Josts Vorlesungen als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität oder zu seinen hervorragenden Vorträgen in der ver.di-Bundesverwaltung. Aus der Bekanntschaft wurde eine Freundschaft, und wir freuten uns immer wieder aufs Wiedersehen.
Die Vorträge und anschließenden Debatten mit Jost waren für alle Beteiligten ein großer Genuss und ein Gewinn. In seinem Buch »Die Toten schweigen nicht« mit Aufsätzen zu Brecht steht am Anfang unter dem Titel „Brecht als Lehrer“ seine Rede zur Namensgebung des Bertolt Brecht-Raumes beim Bundesvorstand der ver.di. In der Vorbemerkung des Buches schreibt er: „Aber Brecht-Vorträge vor außeruniversitären Gruppen und Gremien wären noch besser, um nicht im luftleeren Raum des Theoriebeflissenen oder Informationswissenschaftlichen zu bleiben, wo sich zwangsläufig eine Atmosphäre der ideologischen Unverbindlichkeit verbreitet.“
Es folgten viele weitere Vorträge und Debatten wie auch bei der Namensgebung des Picasso-Raumes und des Helene Weigel-Raumes in der ver.di-Bundesverwaltung.
Mehrfach hat Jost mir im Gespräch versichert, wie wichtig ihm diese Vorträge bei und Diskussionen mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern waren. Die Wissbegierde war quasi spürbar und die lebhaften Diskussionen zeigten bei allen Beteiligten ein gemeinsames Interesse am Erkenntnisgewinn und einer vorwärtsgewandten, handlungsleitenden Debatte. Kontroverse Auffassungen behinderten nicht, sondern beflügelten den Austausch um den Blick auf „gesellschaftsbezogene Möglichkeiten“.
Mein Andenken an Jost ist geprägt von seinem eingreifenden Denken und „gesamtgesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein“ für eine Anstrengung um menschenwürdige Verhältnisse.
Heinrich Bleicher, Köln